„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du den Kleinen keine Horrorgeschichten erzählen sollst!“ schimpfte Fiora mit ihrem Ältesten. „Aber sie wollten sie ja unbedingt hören“ verteidigte sich Aran. „Das ist mir egal! Du wirst ihnen auf jeden Fall keine mehr erzählen. Hast du mich verstanden? Ich verspreche dir, das nächste Mal wecke ich DICH mitten in der Nacht auf. Und DU darfst dann versuchen, sie zu beruhigen und ihnen erklären, dass da keine bösartigen, finsteren Gestalten im Schrank, unterm Bett oder vor dem Fenster lauern. Ich meine das vollkommen ernst! Ich wecke dich auf, dass verspreche ich dir!“ Aran brummte nur. Es hatte ja sowieso keinen Sinn mit seiner Mutter darüber zu streiten. Sie verstand ihn einfach nicht. Und genauso wenig verstand sie seinen Hang zu dessen, was sie „Horrorgeschichten“ nannte. Dabei waren sie doch geradezu harmlos. Überhaupt: was hatte er denn eigentlich getan? Nichts, absolut nichts. Er hatte seinen beiden kleineren Geschwistern doch nur eine Geschichte erzählt. Eine ganz einfache, kurze und gar nicht sonderlich schaurige Geschichte war es gewesen. Ja, und sie hatte den Beiden so gut gefallen, dass sie darum gebettelt hatten noch eine hören zu dürfen. Aber das hatte er nicht getan. Eine Geschichte reicht vollkommen für die zwei Quälgeister. Und nun? Was hatte er jetzt davon? Er musste sich das Gekeife seiner Mutter anhören. Das war ungerecht. Einfach ungerecht. Was konnte er schließlich dafür, dass die Zwei in derselben Nacht Alpträume hatten? Das war sicher nicht seine Schuld. Sicher nicht! Aber natürlich: in den Augen der Mutter war er wieder einmal an allem schuld. Wie immer. Die Zwei waren eben doch nur Quälgeister, mit denen man nichts, aber absolut nichts, anfangen konnte. Auf jeden Fall würde er ihnen NIE wieder eine Geschichte erzählen. Nie wieder. Er hatte wirklich keine Lust sich so etwas noch einmal anhören zu müssen. Seitdem die Beiden auf der Welt waren, hieß es sowieso immer nur: „Sei nicht so laut… Dreh die Musik leiser… Die Kleinen schlafen… Nimm doch etwas Rücksicht… Du musst auf die Kleinen acht geben… Tu dies nicht… Tu das nicht…“ Aran konnte es nicht mehr hören. Aber bald, bald würde er auf eigenen Füßen stehen. Dann konnte ihm niemand mehr verbieten laut Musik zu hören oder irgendwelche Horrorgeschichten zu erzählen. Als ob heute noch irgendwer an solche Geschöpfe glauben würde. Kinderkram! „Mach dich fertig. Sonst kommst du noch zu spät in die Schule!“ riss Fiora ihren Sohn aus seinen Gedanken. „Nicht mehr lange…“ dachte Aran bei sich, „dann habe ich meine eigene Wohnung…“, nahm seine Sachen und verließ sein Noch-Zuhause.
„Erzählst du uns wieder eine Geschichte?“ fragten ihn die Kleinen einige Tage später. „Wieder so eine spannende wie das letzte Mal! Ja? Bitte, bitte.“ Aran lachte heiser. „Damit ihr wieder Alpträume und ich Schimpfer von Mama bekomme? Nein, wirklich nicht. Das könnt ihr vergessen!“ >Quälgeister< wollte er noch hinzufügen. Aber das ließ er lieber. Denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass seine Mutter gleich vor der Tür stand und lauschte. „Nur eine ganz kurze. Bitte! Wir fürchten uns auch nicht mehr. Versprochen!“ „Ich habe NEIN gesagt. Vergesst es! Und jetzt lasst mich bitte in Ruhe, ich muss noch Hausaufgaben machen.“ So eine kleine Lüge nahm Aran gerne auf sich, wenn er die Beiden damit loswurde. Was glaubten die Zwei eigentlich? Dass er den Vortrag ihrer Mutter schon vergessen hatte? Ha! Darauf konnte sie lange warten. Er würde in diesem Haus nie wieder eine seiner Geschichten erzählen. Da schrieb er sie ja noch lieber auf. Und das sollte etwas heißen, denn er war eigentlich ziemlich schreibfaul. Doch die Faszination, die diese dunklen, boshaften Kreaturen auf ihn ausübten, war unendlich größer als seine Faulheit. Sie regten auf eine morbide, irrsinnige Art seine Fantasie an. Ihre ganze Art, die Unlogik ihrer Handlungen, das Fremde, das einem in einer harmloseren Abwandlung beinahe wieder vertraut vorkam, mit einem Wort einfach ALLES faszinierten ihm an diesen Wesen. Und er war damit nicht alleine, dass wusste er. Viele teilten seine Vorliebe für solche Geschichten. Sogar, oder besser gesagt: vor allem in der Schule. In jeder Pause hörte man mindestens eine oder es wurden Bücher und Hefte über dieses Thema getauscht. Bei seinen Freunden traf Aran auf Gleichgesinnte, die ihn – anders als seine Mutter – wirklich verstanden.
Am nächsten Tag in der Schule wurde dieses Thema von einer vollkommen überraschenden Seite angeschnitten. Kurz vor Ende des Unterrichts teilte der Lehrer Kopien eines Zeitungsartikels aus während er versuchte, die Vorfreude seiner Schüler auf den nahenden Unterrichtsschluss zu übertönen. „Habt ihr heute schon die Zeitung gelesen?“ fragte er mit lauter Stimme. Geschlossen verneinten alle Schüler. Es gab wichtigere Dinge am Morgen zu tun als Zeitung zu lesen. Und außerdem stand sowieso immer das Selbe darin, war die einhellige Meinung. „Morgen werden wir einen Ausflug machen“ erklärte der Lehrer. „Unser Ziel ist in diesem Artikel beschrieben. Also, bereitet euch schon ein wenig vor.“ Aran starrte mit immer größer werdenden Augen auf die vor ihm liegende Kopie. „BEWEISE FÜR FABELWESEN GEFUNDEN?“ stand dort in großen Lettern zu lesen. Darunter, etwas kleiner: „Bei Ausgrabungen in der Nähe unserer Stadt wurden seltsame Skelette und Artefakte gefunden, die darauf hindeuten, dass einige jener Wesen, die wir bisher in die Welt der Fabeln, Märchen und (Horror-)Geschichten einordneten, tatsächlich existiert haben könnten…“ Ein leichter Schauer rieselte über Arans Rücken. Fasziniert las er weiter. Jedes Detail der Fundstätte wurde beschrieben. Einige Experten wurden zitiert. Hitze stieg in Aran auf. „Nein, das gibt es nicht“ dachte er schockiert. Immer wieder blieben seine Augen an dem Blatt vor ihm heften. Bis die Glocke das Ende der Schule einläutete und Aran je aus seinen Gedanken riss. Es war seltsam still in der Klasse geworden. Blasse Gesichter mit großen Augen blicken einander an. „Eine Zeitungsente, was anderes kann es nicht sein…“ war in ihnen zu lesen. „So etwas konnte es nicht geben!“ flüsterten leise Stimmen. „Kein halbwegs vernünftiger Erwachsener konnte so eine Geschichte glauben“ dachte Aran. Und Aran hielt sich sowohl für vernünftig als auch für erwachsen. Nein! So etwas war gänzlich unmöglich! Diese dunklen, bösartigen Kreaturen waren nicht mehr als eine Ausgeburt der Fantasie. Sie existieren nicht. Haben nie existiert. Sie sind nur Teil eines Märchens, mit dem man kleine Kinder erschreckt. Aber morgen, morgen sollte die ganze Klasse einen Ausflug zu dieser Ausgrabungsstätte machen… Was, wenn sie tatsächlich gelebt hatten? Was, wenn es immer noch irgendwo lebende Exemplare dieser Gattung gab? Nein, das konnte nicht sein. Das war alles ein Schwindel. Auch die so genannte Ausgrabung. Nicht mehr als ein schlechter Scherz. In ein paar Tagen würde es heißen, dass das Ganze nur Teil einer Werbekampagne für einen neuen Horrorfilm war. Ja, dass würde es sein. Das musste es sein. Denn es hatte sie nie gegeben. Weder heute noch vor tausenden von Jahren. Diese grausame, schreckliche Kreatur namens „MENSCH“…
So dachte Aran, stand auf und flog nach Hause. „Aber was wäre, wenn doch???“ fragte er sich bei jedem Schlag seines Drachenherzens.
ENDE